Visuelle Identität des
Anderseits Literaturfestivals

Das junge Literaturfestival ‹anderseits› braucht ein Erscheinungsbild, das im Rahmen der geringen zur Verfügung stehenden Mittel verwirklicht werden kann und mit möglichst großer Öffentlichkeitswirkung seinen übergeordneten Anspruch deutlich macht: ‹anderseits› ist der Versuch, durch den propagierten Literaturbegriff, die Wahl der Veranstaltungsformate und des Kontextes den «etablierten» Literaturbetrieb – jenseits einer reinen Szene-Veranstaltung – zu hinterfragen. Am Anfang steht eine Plakatkampagne, die sich in zwei Phasen entwickelt und schwerpunktmäßig auf das Schanzenviertel konzentriert, wo typischerweise wild plakatiert wird.

Siehe auch:
Anderseits Programmheft

Zunächst werden ausschließlich wortlose Anschläge geklebt: Die Fotografien bleiben unvermittelt stehen.

Dann mischen sich solche darunter, die mit Text und Logo überdruckt wurden – die Textversatzstücke verteilen sich dabei zufällig auf die Bildanschläge.

Wände, Stromkästen, Mülleimer – überall wird im Schanzenviertel in Massen geklebt, in hoher Frequenz abgerissen oder erneut überklebt. Dieses chaotische Moment wird als strukturierender Vorgang aktiv in den Gestaltungsprozess einbezogen.

Die Plakate werden im Copy-Shop als Schwarz-Weiß-Kopien auf farbigem Kopierpapier hergestellt: das ermöglicht die Produktion einer Vielzahl unterschiedlicher Motive selbst in geringen Auflagen, in beliebigen Mengenverhältnissen und nach Bedarf. Die einfache Präsenz des Materials schafft im Kontext der bunten, wild plakatierten Umgebung eine Zeichenhaftigkeit, die noch gesteigert wird, indem die einzelnen Anschläge um 45° geneigt geklebt werden. Veranstalter und Auftraggeber sind selbst in den Schaffensprozess eingebunden: Von der Wahl der Kopiervorlage, der Farbe des Papiers hin zur Konfiguration der Einzelanschläge auf der Wand – das Zusammenspiel dieser Aspekte eröffnet eine Vielfalt gestalterischer Perspektiven.

Statt ein Plakatmotiv unverändert zu wiederholen, besetzen viele kleine Teile immer variierende Flächen. Dabei entsteht jedes Mal ein «Mikrokosmos» von Anschlägen, die große Flächen einfach überdecken, rhythmisch zwischen andere Plakaten springen, die Wand hinablaufen und buchstäblich aus dem Rahmen fallen.

Die Unbestimmtheit der Fotografien wirkt im Kontext ihres Erscheinens eigenartig und fällt auf. Die Abwesenheit einer konkreten sprachlichen Botschaft und ihre zahlenmäßige Präsenz lenken die Aufmerksamkeit auf die plakatierten Flächen im Großen und auf die einzelnen Anschläge im Kleinen, die bewusst als Fremdkörper dem lauten, repetitiven Umfeld entgegentreten.

Hinzu kommen Text-Versatzstücke, die den Werken der beteiligten Autoren entstammen. Ein Verweis darauf oder auf eine Veranstaltung, der sie als Information kenntlich machen, der Eindeutigkeit vermitteln und ihre Bedeutung klären würde, fehlt. Es bleibt Raum für Assoziationen. Wirken Text und Bild jeweils für sich genommen unvermittelt, erscheinen die Texte in der Kombination wie Bildkommentare, ohne dass sich ein sachlicher Bezug zum Bild festmachen ließe. Sucht man im Einen die Erklärung des Anderen, stellt sich der Zusammenhang jedoch als «zufällig» heraus – er entsteht bei der Herstellung durch die individuelle Auswahl und Kombination zweier Kopiervorlagen immer aufs Neue.

Das Verhältnis von Bild und Text ist nicht konkret illustrierend. Es will die Irritation, die Störung, das Rauschen. Es fordert so im Sinne von ‹anderseits› zur Reflexion der eigenen Idee von Literatur auf.

Flyer sind Bildanschläge, verkleinert kopiert, mit eingedruckten Informationen auf DIN lang gefalzt. Dass man einen Flyer für gewöhnlich «gerade» in den Händen hält, greift das Aus-dem-Rahmen-Fallen als Spiel zwischen Außen- und Innenseite auf.

Logo-Anschlag

Logo & Typografie

Als typografische Inszenierung des Titels ‹anderseits› entwickelt das Logo aus der Verzerrung und Drehung der einzelnen Textzeilen ein Spiel der gegenläufigen Bewegungen, das den Eindruck von Räumlichkeit erzeugt. So entsteht ein Zeichen, das vor dem Auge des Betrachters nicht stillstehen will, das trotz seiner einfachen und prägnanten Form nicht die Eindeutigkeit sucht – auf abstrakter Ebene stellt es in Aussicht, was Literatur im Sinne von ‹anderseits› sein könnte.

Davon aus- und darüber hinausgehend prägt die von Zuzana Licko für Emigre entwickelte Schrift ‹Citizen› das Erscheinungsbild von ‹anderseits›. Sie entstand 1986 aus dem Spiel mit der ‹Smooth-Printing-Option› früher Macintosh-Rechner, die aus 72 dpi auflösenden Bildschirmgrafiken 300-dpi-Bitmaps für Laserdrucker errechnete – implizit besteht hier eine formalästhetische Analogie zum technischen Produktionskontext der Plakate von ‹anderseits› als Schwarz-Weiß-Kopie. Der eigenwillige, experimentelle Charakter der ‹Citizen› kommt dem Selbstverständnis von ‹anderseits› entgegen, ihre Prägnanz der Verwendung als Identifikationsschrift.

Programmheft

Unter der plakativen Oberfläche verspricht das Programmheft die Annäherung an den inhaltlichen Kern des Festivals. Ein aufs Format gefalzter Bild-Text-Anschlag, auf seiner Rückseite ergänzt um das eingedruckte Programmverzeichnis, stellt als Umschlag noch einmal den Bezug zum Erscheinungsbild her. Im Gegenzug ermöglicht er dem innenliegenden Heft genügend Eigenleben, um inhaltlich und als gestaltetes Objekt das Gesamtkonzept zu bereichern.

Programmanschläge schaffen Orientierung und Übersicht, verstrichene Veranstaltungen werden durchgestrichen. Der groß geschriebene Titel wird zum typografischen Bindeglied.

Zur Orientierung hängen an den Veranstaltungsorten Programmanschläge, die sich als Wegweiser zu den Räumen verteilen und zentral zu einem großformatigen Programmüberblick versammeln. In drei entsprechend der Veranstaltungstage farbcodierten Reihen finden sich dort alle Veranstaltungsinformationen. Zugleich drückt das Orientierungssystem dem räumlichen Zusammenhang der Veranstaltung seine Marke, also seinen inhaltlichen Zusammenhang, auf. Kurz: Es etabliert den sichtbaren Rahmen eines inhaltlich zusammenhängenden Festivals an und zwischen einzelnen Veranstaltungsorten. Auch in diesem Zusammenhang verändert im Übrigen ein manueller Eingriff die Erscheinung der Original-Vorlage nachträglich: Ist eine Veranstaltung verstrichen, wird der Titel mit einem breiten schwarzen Marker durchgestrichen.

Programmanschläge

Programmwand

Eintrittskarten

Zusammengefaltet dienen die Bildanschläge als Verpackung.

Hinter ‹anderseits› steht ein gemeinnütziger Verein, der neben dem Festival über das Jahr verteilt eine Vielzahl an Veranstaltungen organisiert. Diese kund zu tun besorgt ein Anschlag, der dem Prinzip des Literaturfestivals folgt und gleichermaßen vom Verein selbst produziert wird: Eine Fotografie auf farbigem Papier wird von einer überdruckten schwarzen Fläche verdeckt, aus dem die je aktuellen Informationen ausgestanzt erscheinen und jedes Mal den Blick auf einen anderen Teil des Bildes freigeben.